PERSONAL TERRITORIES
Identität, Grenze und Verwandlung
Kerstin Karge, Kai Lorenz

Hier, Da und Dort. Breaking News aus Sydney, gesehen in Berlin. Flug nach San Francisco über Neufundland. Attentat in Bombay. Umsteigen in Paris. Neuer Job in Sankt Petersburg, dann Shanghai. Besuch des Bruders in Schweden. Raketenangriffe in Gaza. Im Dorfteich baden. Postgraduate studies in Warschau. Trennung nach zehn Jahren. Ausbildung zum Fotografen in Madrid. Flüchtlinge aus Donezk. Früher Programmierer in Atlanta. Muslime beten in den Straßen. In Anchorage rohes Robbenfleisch. Zurück in Glasgow. Abschied von Kairo. Abend in Berlin.
Wir leben immer hier. Was geschieht, wenn das Hier fließt, zerläuft, seine Konturen verliert, oder verschoben, aufgelöst, aufgerissen wird?

Die Werke in dieser Ausstellung nähern sich dem persönlichen Raum mit verschiedenen Herangehensweisen. Sie reflektieren verschiedene Ansätze, die instabile Beziehung zwischen Identität und Grenzen in einer Zeit großer Erwartungen und mancher Illusionen bezüglich einer grenzenlosen Gesellschaft darzustellen. Fotografien, Videos, Installationen und Performances fordern die Besucher zu Reflexionen über den Begriff der Grenze auf, der Grenze als Schranke oder als Absprung ins Unbekannte. Physisch begrenzte Territorien werden Symbole, symbolisch begrenzte Räume schneiden sich in die intime Erfahrung ein, Hybriden aus Kosmopolitismus und Abgrenzung bilden sich, und diese Künstler sind unterwegs als Reisende, Experimentatoren, Schutzsuchende, Berichterstatter.

BEDRÄNGEN/PROVOZIEREN. Petra Spielhagen lebt und arbeitet in Berlin. Nach dem Studium von Freier Kunst und Bühnenbild Rückzug von der Theaterarbeit, seit sie die Realität immer mehr als inszeniert empfindet. Ihr Thema ist die Grenze zwischen Alltagssituation und Inszenierung im öffentlichen Raum, in dem beide beständig miteinander konfrontiert sind. Hat sie in früheren Arbeiten urbane Landschaften wie Kulissen fotografiert – ausgeleuchtet, arrangiert, menschenleer –, spürt sie heute der Wirkung von Werbekulissen im öffentlichen Raum nach – durch Installation von Nachbildungen originaler Werbemittel in Straßen und Plätzen oder an Gebäuden – und stellt die Nähe von Straßensituationen zu Bühnenszenen dar.

Ihr Beitrag zu PERSONAL TERRITORIES ist die Umgestaltung des Eingangs zum Projektraum für die Dauer der Ausstellung. Eine Nachbildung des Vordachs der Boxarena des Madison Square Garden III, New York, wird „The Showdown“ zeigen, die Ankündigung eines Boxkampfes. Es wird die Eingangssituation des Projektraums dominieren und ihn zwischen den Werbeschildern der umliegenden Geschäfte exponieren. Die Inszenierung beruft die öffentliche Werbung für Gewaltinszenierung als Unterhaltung, um die Qualität des Boxens als inszenierten Ausdruck eines Kampfes um einen unmittelbar persönlichen Raum, den Leib, in Erinnerung zu bringen. „Ein Boxer bringt alles in den Kampf ein, was er ist und alles wird sich erbarmungslos zeigen, auch das Geheimste, was nicht einmal er selbst über sich weiß: sein Körper-Ich, seine Männlichkeit, könnte man sagen, die «Schicht» unter seinem «Ich».“ (Joyce Carol Oates) – Kampf der Boxer um Treffer. Konkurrenz der Werbung um Aufmerksamkeit. Wettlauf der Künstler, die sich durchboxen wollen.

EINDRINGEN/ÖFFNEN. Chryssa Tsampazi ist in Deutschland geboren, in Griechenland aufgewachsen und hat in Athen Schauspielkunst und Theater sowie in Chicago Performance studiert. Sie hat in Griechenland, den USA und Deutschland gearbeitet. Seit einigen Jahren widmet sie ihre Arbeit der Frage, was es für die eigene Erfahrung bedeutet, wenn ein Live-Event nicht im Theater inszeniert wird, wenn man nicht Zuschauer, sondern Mitwirkender ist. Sie führt dazu das Publikum durch performative Sprechaktionen, gestische Präsentationen und körperliche Nähe in intime Situationen, in denen sich Zuschauer als Medium der Darstellung erleben. Die Mobilisierung der Empfindungen soll die Spannungen zwischen verdrängten Wünschen, emotionalen Widersprüchen und alltagsökonomischer Disziplinierung hervortreten lassen und die Subjektivität der Zuschauer als Koakteure provozieren. Sie sollen erproben, sich zu verändern, innere Grenzen zu überschreiten, weiter zu gehen, als sie sich bislang erlauben. Tsampazi kombiniert dazu traditionelle Dramaturgie definierter Instruktionen, Praktiken der Konzeptkunst und Einflüsse von Brechts Theater mit dem Einsatz des Chors der antiken Tragödie, der ein allgemeines Publikum repräsentieren und zugleich unausgesprochene Wünsche des Protagonisten zum Ausdruck bringen kann.

Ihr Beitrag zu PERSONAL TERRITORIES ist die Performance I Got A Plan To Get Us Out Of Here, mit der die Kraft des (gemeinsamen) Gesangs dargestellt werden soll. Vorlage ist die Sage von den Argonauten, die auf der Suche nach dem Goldenen Vlies vom Sänger Orpheus begleitet wurden. Mit seinem Gesang konnte er die Kyaneischen Felsen, die alles zwischen ihnen Befindliche zu zerschlagen suchten, bezwingen und zur Ruhe bringen, so daß das Schiff passieren konnte. Eine Gruppe von professionellen Sängern ist eingeladen und bildet das Orpheus Team. Sie werden unterschiedliche Rollen einüben: Patrioten, Skeptiker, Konservative, Diskutanten, Polemiker, Aktivisten. Je ein/e Sänger/in besucht eine Wohnung in der Nachbarschaft, macht sich bekannt, bittet darum, mit den Bewohnern Zeit verbringen zu dürfen. In Zusammenarbeit mit den Mietern schaffen sie eine Liedinterpretation aus verschiedenen Textfragmenten, die sich auf das aktuelle Weltgeschehen beziehen. Die Performance führt dann die Zuschauer zu den Wohnungen, die Anwohner werden neuerlich mit fremden Gästen konfrontiert. Die Sänger singen in der Wohnung / im Fenster / in der Ausstellung / auf der Straße.

STÖREN/VERLETZEN. Sharon Paz, geboren und aufgewachsen in Israel, lebt heute in Berlin und kreist in ihren Arbeiten immer wieder um Erfahrungen kultureller Fremdheit, religiöser Spannungen und politischer Konflikte. Was geschieht, wenn sich Alltagsroutinen nie ohne Unterbrechungen bilden können? Wie verändert sich die Aufmerksamkeit unter alltäglicher Erwartung von Störung, Konflikt, Gewalt? Sie exponiert die Verhaltensmuster, die in einem Leben in beständiger Spannung oft zu bizarrem Nebeneinander unvereinbarer Haltungen führen. Sie zeigt in ihren Arbeiten in gestischen Replikationen von Überwachungs- und Kontrollsituationen, Polizeiaktionen und Street Riots, wie die Verletzung intimer Räume erlebt wird. Sie läßt das Aufstauen von Gefühlen der Verzweiflung, Ohnmacht und Apathie in Situationen nachempfinden, die von grotesk anmutenden Arrangements bestimmt sind.

Ihr Beitrag zu PERSONAL TERRITORIES ist die Video-Installation Open|Close, die den Betrachter in eine performative Situation bringt. Am Eröffnungsabend muß er den Raum, in dem das Video gezeigt wird, durch einen Checkpoint betreten. Er macht die physische Erfahrung der Protagonisten im Video. Beim Bewegen im Raum wird er immer einen Schatten in die Projektion werfen, die Bilder verändern. Ihm wird seine Anwesenheit bewußt gemacht, er erlebt seinen Einfluß in einer Situation. Am Eröffnungsabend kann zudem das Straßenpublikum das Video mit den Zuschauereffekten sehen, spiegelverkehrt auf das Schaufenster zur Straße projiziert. Es sieht die Störung des Bildes durch die Betrachter im Projektionsraum, (noch) ohne sich selbst dieser Situation auszusetzen. Das Video läuft im Loop. Es läßt in der ersten Sequenz nur eine tiefschwarze Fläche sehen, lediglich unterbrochen von kleineren Löchern, die als Durchblicke in Tageslicht erscheinen. Unter metallischem Quietschen und warnendem Piepton bewegen sich vor den Löchern gitterähnliche Schatten, bis man erkennen kann, daß, wie Schicht um Schicht abgeschält, Barrieren, Gitter, Sperren, Blenden und Zäune zu den Seiten aus dem Bild gezogen werden. Nach und nach wird der Blick auf einen Kontrollpunkt vor dem Hintergrund das Jerusalemer Löwentors frei. Das Tor ist vermauert. Der kontrollierende Beamte fordert ungeduldig Einblick in Taschen und Rucksäcke von Passanten und durchwühlt sie. Stockend bildet sich eine Warteschlange, löst sich auf und bildet sich neu. Die Wartenden stehen stoisch oder apathisch, aber ungeduldige Ankömmlinge rempeln immer wieder die vor ihnen Wartenden an, senden Wellen von Unruhe und Ärger durch die Reihe. Wer kontrolliert ist, passiert ins Nichts hinter dem Bildrand und in endlos scheinender Folge kommen immer wieder neue Passanten. Aber mit dem Verschwinden der letzten Barriere verschwinden die letzten Passanten, nachdem sie kontrolliert worden sind. Der Kontrollpunkt steht frei im Raum. Der Kontrolleur sitzt allein. Hinter ihm das vermauerte Tor.

VERMISSEN/ERMÜDEN. Rola Khayyat und Ahmed Zidan, geboren und aufgewachsen im Libanon bzw. in Ägypten, sind miteinander verheiratet. In ihrer gemeinsamen Arbeit thematisieren sie den Niederschlag geschichtlicher, konfessioneller und sozialer Grenzen in der zeitgenössischen Geographie der Stadt. Die besonderen Bedingungen ihrer Herkunft rücken die Auseinandersetzung mit dem beständigen Fluß solcher Grenzen durch politische und religiöse Konflikte und militärische Aktionen ins Zentrum. Sie zeigen, wie die Bewegung, Aufgabe, Neuerfindung und Veränderung der städtischen Lebensräume die Lebensweise ihrer Bewohner bestimmt, ihr Gedächtnis prägt und ihre Bindung an religiöse Praktiken und Sekten bestärkt, wo Erinnerung und Identität gesichert werden muß. Rhola Khayyat arbeitet mit Fotografie, Video und Lichtinstallation; Ahmed Zidan als Arrangeur und Komponist von Klanglandschaften, sound streams und semi-dokumentarischen Interviews.

Ihr Beitrag zu PERSONAL TERRITORIES ist die Foto-Sound-Installation 13 a.m., eine Zusammenstellung von Bildern und Klängen, die Szenen in den belebten, zum Teil überfüllten Plätzen von Ard el Lewa, einem Stadtviertel von Kairo, dokumentieren und schildern. Ard el Lewa ist eine ungenehmigten Siedlung auf Ackerland im Großraum Kairo, die heute wie ein exemplarisches Zeugnis urbaner Misere wirkt. Für die Erarbeitung des Materials haben beide Künstler zusammen mit anderen im Residency Project „Art el Lewa“ drei Monate vor Ort gelebt, die schmalen Gassen, Plätze und viele der kleinen Behausungen kennengelernt und Bekanntschaften angeknüpft. So, wie sie in die Farben, Räume und Geräusche des Viertels eingetaucht waren, kann der Betrachter in die Geräuschkulisse eintreten; eine Audiosequenz gibt den Weg durch das Viertel, den die Hängung abbildet, akustisch wieder. Der optische Teil ist aus Momentaufnahmen des täglichen Lebens zusammengesetzt, er zeigt die Tok-Toks (überall gegenwärtige Dreirad-Transporter), deren reiche Innendekorationen die privaten Wünsche, Träume und Fantasien der Bewohner spiegeln, gibt intime Einblicke in das Leben in den Hütten und das intensive Straßenleben, das aus der Verlängerung der engen Räume in die Gassen durch Aufstellen von Tischchen, Sofas und Bettgestellen entsteht. Es ist ein Bereich unscharfer Grenzen zwischen privatem und öffentlichem Raum. Der akustische Teil präsentiert eine Kakophonie von Geräuschen aus den Gassen, verwandelt durch Loops, in denen die Rufe der Straßenverkäufer und Arbeiter zu hören sind, das Hupen von Autos und Tok-Toks, Fetzen von Cafégesprächen, Musikstücken, Hundebellen ... Jede Spur stellt einen Teil des Tages dar, der erste Track einen harmonisch-disharmonischen Morgengruß, der zweite die Symphonie des Nachmittags, der dritte den Abend als Reise in die Nacht und der vierte die für Ard el Lewa exklusive Stunde: 13 a.m.

AUFHALTEN/FREILASSEN. Yuki Jungesblut ist geboren und aufgewachsen in Deutschland. Ihre künstlerische Praxis bewegt sich im Spannungsfeld von Medienreflexion, Medienpraxis, Raumerkundung, Modellkonstruktionen und Alltagsbezug. Sie entwickelt ihre künstlerischen Arbeiten aus empirischer Recherche im Feld und lotet dann in ihnen aus, was das Faktische überschreitet – Stimmungen, Potentiale, den Grenzbereich von Imagination und Realität, Übergänge und Ambivalenzen. Sie arbeitet mit Fotografie, Video, Installation, Sprache und setzt performative Elemente ein.

Ihr Beitrag zu PERSONAL TERRITORIES besteht in der Foto-Installation „Hotel Leipzig“; einer künstlerischen Erforschung von Räumen, in denen sich das Private und das Öffentliche kreuzen. Das Material dazu hat die Künstlerin in 23 verschiedenen Hotels gewonnen, als sie beruflich bedingt über mehrere Monate in Leipzig zu übernachten hatte. Es handelte sich um Businesshotels oder Unterkünfte für Geschäftsreisende, die, wie überall, eine eigentümliche Mischung von Fadheit und Standardisierung zugleich mit Ausdruckswillen und Inszenierung aufwiesen. Bei ihren Aufenthalten hat sich die Künstlerin auf die Atmosphäre der Zimmer eingelassen, auf deren Farben, Formen und Texturen, und hat auf die eintretende Wirkung mit Bildausschnitten und Perspektiven reagiert. Dabei sind Gesamtansichten vermieden, nur Aus¬schnitte, Fragmente und Andeutungen werden präsentiert. Sie setzen die Betrachter dem visuellen Eindruck aus, den Gäste im unpersönlich leeren Hotelzimmer haben. Der Anthropologe Marc Augé hat in seinem Buch "Nicht-Orte" (u.a.) auch Hotels als Räume diagnostiziert, die von Bindungen und Beziehungen entkoppelt sind. Die sinnliche Wirklichkeit dieses Umstands wird hier exponiert: in solchen Räumen bildet sich keine Identität aus und ein eintretender Gast wird auf seine Einsamkeit, Austauschbarkeit, Beliebigkeit zurückgeworfen. Die Präsentation macht diesen Nullpunkt als Chance wahrnehmbar, den Zustand einer tabula rasa – ein weißes Blatt Papier, eine leere Leinwand, ein unbegangener Weg. Ortlosigkeit, die Möglichkeit erzeugt.

Die Oszillation zwischen den verschiedenen Segmenten des Territorialen, sowohl des imaginären als auch des realen ist es, was die Künstler in diesem Projekt eint, selbst wenn die persönlichen und politischen Motivationen so verschieden wie die von ihnen angewandten Techniken sind. Die Frage nach der Vermischung persönlicher und öffentlicher Bereiche wird so untersucht wie das Phänomen selbstgezogener und vorgegebener Grenzen, um über subjektive Interpretation Bilder komplexer Lebensrealität zu zeichnen. In veränderter Umwelt sind wir alle gleichermaßen genötigt, das, was wir am meisten brauchen, zu finden, zurückzuerobern oder anzupassen: unseren persönlichen Raum.

[1] Die Stadtmauer von Jerusalem wurde 1532-1542 unter Sultan Süleyman dem Prächtigen erbaut, um die Stadt vor Eindringlingen zu schützen. Das Löwentor ist der wichtigste Zugang zur Altstadt von Osten. Im Sechstagekrieg gelangte die israelische Armee durch dieses Tor in die Altstadt.




PERSONAL TERRITORIES
Yuki Jungesblut
Rola Khayyat und Ahmed Zidan
Sharon Paz
Petra Spielhagen
Chryssa Tsampazi
PRESS
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KERSTIN KARGE studied architecture and art management. Since 2009 she has been operating in the field of Art in Context as a culture manager e.g. for project spaces such as Art Laboratory Berlin, arttransponder, and okk/raum29 and for Haus der Kulturen der Welt. She works also as art event manager at the bildungswerk of bbk berlin. In 2009 she was the co-initiator and until 2013 (co-) coordinator of the Network of Independent Berlin Project Spaces and Initiatives. First curatorial projects have been developed in collaboration with the Swiss artist Valentin Magaro and the Israeli artist Sharon Paz since 2012. Since 2014 she has enhanced her involvement in the initiative To Have and to Need. Kerstin Karge lives and works in Berlin.

KAI LORENZ born in 1964. Doctor of philosophy, engineer and since 2007 a member of the Ateliergemeinschaft Milchhof, Berlin.


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